

Unschuldig, aber anhänglich
Mein Lieblingskraut dürfen Sie nicht mit der Klette verwechseln. Die ist viel größer und mit ihren bis zu 30 cm langen Blättern eher als Toilettenpapier zu gebrauchen als für den Salat. Ich rede hier vom Kletten-Labkraut, einem rankenden zarten Schätzchen, das sich mit Kletthaaren überall anschmiegt. Es sieht ähnlich aus wie Waldmeister, mit minikleinen weißen Blütchen. Um die Blüte zu entdecken, brauchen Sie Ihre Lesebrille. Oder fragen Sie Kinder, die haben besser Augen. Oder nehmen Sie eine professionelle Lupe mit, und bewundern Sie dann die vier winzigen Blütenblättchen in der Unschuldsfarbe weiß. Kein Wunder, dass beim Genuss Ihr Inneres reinlichst sauber wird und die Pickel sich davonmachen!
Einfach praktisch … und fürs Selbstbewusstsein …
„Aber das klettet doch so!“ sagen meine Kursteilnehmer dann immer. Ich sage Ihnen den ultimativen Vorteil: Beim Gänseblümchen-Blätter pflücken müssen Sie jedes Blättchen einzeln pflücken und – wenn Sie mittags einen Salat für eine Person machen wollen – dafür eine ganzen Vormittag einplanen. Hier haben Sie mit einem Griff zehn Pflanzen komplett in der Hand. Und einen Sammelkorb brauchen Sie auch nicht. Kleben Sie sich das Zeug einfach an die Jacke. Und wenn einer komisch guckt? Betrachten Sie es als eine Übung zur Stärkung des Selbstbewusstseins. Oder nehmen Sie es – statt Hund – als Kommunikations-Instrument, um mit dem nächsten Passanten ins Gespräch zu kommen. Vielleicht lernen Sie dabei noch Ihren Traumpartner kennen!
Ein Kraut für alle Fälle
Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich dieses Kraut so liebe. Mit Hilfe dieses unscheinbaren Krautes sind Sie vor allen Krankheiten gefeit. Das weiß ich übrigens erst seit meiner Ausbildung zur Kräuterfachfrau. Die bekannte Dortmunder Heilpflanzenschule Phytaro schreibt in ihrem Skript über das Kraut: „Wurde seit jeher gegen Hautkrankheiten eingesetzt. Im frischen Kraut sind krebsfeindliche Substanzen. Stärkt und stimuliert das Immunsystem. Es ist ein Heilmittel gegen langwierige Virusinfektionen, gegen extreme Mattigkeit nach schweren Krankheiten. Es ist ein Diuretikum und lässt sich auch gegen Prostataentzündung verwenden“. Ein Diuretikum? Ist das etwas Gefährliches?! Nein! Es treibt den Harn und damit die Gifte raus. Ein Salatkraut, das gleichzeitig die Universalapotheke ist? Und viel besser schmeckt als bittere Tinkturen? Genial!
Blendendes Aussehen …
Falls Sie nicht genug Kletten-Labkraut im eigenen Garten oder im Stadtpark finden, fragen Sie doch die Nachbarn, ob bei Ihnen noch etwas in der Hecke klettert. Die werden es Ihnen gerne überlassen, denn nur die wenigsten Zeitgenossen wissen um die zauberhaften Eigenschaften unseres Schätzchens. Ihre Nachbarn werden Sie aber spätestens nach ein paar Wochen fragen, warum Sie plötzlich so blendend aussehen. Wenn Sie nun die Wahrheit sagen, ist es natürlich vorbei mit der Labkraut-Quelle des Nachbarn. Vielleicht entwickelt sich aus dem Gespräch aber auch eine lebenslange Freundschaft oder eine Verabredung zu einem Detox-Tag …
Schmuckschatulle …
Die Samen sind auch als Brosche unterwegs zu gebrauchen, nicht nur innerlich als Schönheitskraut sondern auch äußerlich auf der Kleidung. Nie war Schmuck designen so einfach wie heute! Ohne unerwünschten Müll von unmodernen Plastikbroschen mit chinesischen Schwermetallresten, stattdessen kompostierbares Material in modischem Apfelgrün zum selbst designen! Sollten Sie beim Date mit Ihren Liebsten oder Ihren Vorgesetzten in der Aufregung vorher allen Schmuck vergessen haben: Hier wird Ihnen geholfen! Nehmen Sie die kleinen Früchte und kleben Sie sie an die Kleidung. Nein, nicht das ganze Kraut, das trägt zu sehr auf! Es sei denn, Sie wollen auffallen. Nur die kleinen runden einzelnen Früchtchen meine ich, passend zum vorgegebenen
Anlass. Bei einem Liebes-Rendezvouz formen Sie doch ein Herz, bei einer Friedensdemo ein Peace-Zeichen, wenn Sie zum Meditieren gehen, ein Om. Oder ganz intim den Vornamen des Angebeteten … Mit dem Vorteil, dass man das Zeug nicht wie beim Tätowieren mit teuren Laser-Behandlungen wieder entfernen muss …
Zen …
Wie viele Anwendungen waren das jetzt schon? Jetzt kommt allerdings noch die ultimative, mit der ich mich demnächst auch als Lebensberaterin rühmen darf: Schneiden Sie das Kraut, weil es ja so klettet, so klein wie Schnittlauch. Hier haben wir nicht die Meditation „Zen in der Kunst des Bogenschießens“, sondern Zen in der Kunst des Kletten-Labkraut-Schneidens. Sagte ich es nicht schon? Natur macht gesund.
Die Krautgurke
Und jetzt noch einen Gurkensaft ganz ohne Gurke! Mit einem städtischen Unkraut. Ohne holländische Spritzmittel, weite Transportwege und Plastikhülle. Nehmen Sie (Sie wissen schon, mit nur einem Griff) ein Knäuel frisches Kletten-Labkraut und füllen Sie es in eine Glaskanne. Sie dürfen die ruhig dicht vollstopfen, auch das Kraut vorher noch etwas quetschen. Dann gießen Sie mit Wasser auf, lassen das Ganze drei Stunden stehen und genießen das apfelgrün gefärbte Wasser wie Gurkensaft. Schmeckt erfrischend in heißen Stadtsommern, entschlackt und macht weniger Arbeit als die Gurkenscheiben auf den Augen. Der Unterschied? Gurkenscheiben auf den Augen sind nicht so harntreibend …
Der „Gurkentrank“
Ernten Sie ganz ungeniert!
Nach diesen Lobeshymnen hoffe ich, dass das Kletten-Labkraut nicht irgendwann auf der Roten Liste der gefährdeten Arten stehen wird. Bauen Sie es also ruhig im Garten an oder als Guerilla-Gärtner auch auf allen städtischen Brachflächen. Das fällt mit Sicherheit keinem auf. Dann haben Sie immer eins vor Ort. Als Kaffee-Ersatz können Sie zum Beispiel die reifen Samen trocknen, rösten und mahlen. Unser Schatz ist, glauben Sie mir, tatsächlich mit dem Kaffee nahe verwandt!
Sie können es aber auch als Deo nehmen. Tipp von einem bekannten Outdoor-Spezialisten. Wenn das Wasser mal wieder zu kalt war, reiben Sie den ausgequetschten Saft unter die Achseln.
Und wenn ganz Deutschland endlich den Wert dieses Schätzchens erkannt hat, verdient es hoffentlich bald den Titel der „Pflanze des Jahres“!
Klettenlabkraut (Galium aparine)
Beschreibung: Klettende Pflanze, oft in Massenbeständen, klettet aneinander und rankt sich so an anderen hoch, bis 2 m lang. Vierkantiger Stängel, Blätter quirlförmig um den Stängel angeordnet, winzige, weiße Blüten mit 4 Blütenblättern, klettende Früchte kugelförmig, ca. 3 mm Durchmesser, jeweils zu zweit
Vorkommen: Unkrautbestände, Heckenränder, Waldränder, Ufer, Schuttstellen, verbreitet
In der Küche: Die ganze Pflanze darf in den Salat, wegen des „Klettens“ aber am besten so klein geschnitten wie Schnittlauch
In der Apotheke: Sie hilft gegen Pickel und Schuppenflechte. Dazu trinkt man regelmäßig den Tee und legt Kompressen aus gequetschtem Kraut auf.
Stärkt das Immunsystem und wirkt harntreibend.
Ursula Stratmann ist Dipl.-Biologin und Kräuterfachfrau und veranstaltet seit 10 Jahren Kräutertouren im Ruhrgebiet. Diese Kapitel stammt aus Ihrem vierten Buch: Mein Stadtkräuterbuch, Kailash, München 2016.